Als Produktmanagerin für Google Meet ist Nesrine Changuel für ein weltweites Videokonferenzprodukt verantwortlich, das ein enormes Wachstum verzeichnet und Remote-Arbeit und -zusammenarbeit für alle zugänglicher macht. Im Interview während des Digitale Leute Summit 2021 gibt Nesrine Einblicke in ihr Produktmanagement, insbesondere für Audio- und Videoprodukte, auch in unterschiedlichen Unternehmenszusammenhängen. Denn vor ihrer Tätigkeit bei Google Meet war sie auch bei Nokia Bell Labs, Skype und Spotify beschäftigt.
→ Hier findest du die komplette Aufzeichnung ihres Interviews
- In diesem Text lernt ihr
- Worin Nesrine die wichtigsten Aufgaben von Produktmanagern sieht
- Wie sie bei Skype, Spotify und Google Meet im Bereich Medien arbeitet
- Wo die Unterschiede in der Arbeit für diese Unternehmen im Generellen liegen
Was für Nesrine Produktmanagement ausmacht
Für Nesrine ist Produktmanagement ein crossfunktionaler Job, „dessen Hauptaufgabe es ist, Werte für die Nutzer zu generieren“. Es gibt nach ihrer Ansicht zwei Wert-Bereiche:
- ökonomische Werte: Zum Beispiel die Frage, wie man den Umsatz steigern kann.
- Nutzerwerte: „Der wichtigere Bereich sind die Nutzerwerte“, so Nesrine. Die Nutzer müssen mit einem Produkt glücklich gemacht, „deren Probleme sollen gelöst werden“. Deshalb sei es auch wichtig, mit den Nutzern zu sprechen und ihre Herausforderungen herauszufinden, „und diese Probleme dann in Ideen zu überführen, mit denen Lösungen entwickelt werden können“, so Nesrine.
„Es gibt aber auch keine Lösung, wenn keine wirtschaftlichen Werte generiert werden“, so Nesrine. Die Arbeit mit Medien sei der mit anderen Technologien ähnlich. „Ich bin ein technischer Projektmanager“, sagt Nesrine. Sie nutze deshalb ihr technisches Wissen, um Technologie in Lösungen oder Produkte zu überführen. Als Beispiel nennt sie die Einführung von virtuellen Hintergründen für die Videokonferenzsoftware Meet. „Das ist entstanden, um ein Problem zu lösen“, so Nesrine, nämlich das der Privatsphäre, die in der Arbeit von zuhause geschützt werden soll.
Was den Unterschied zwischen Forschung und Produktmanagement macht
Nesrine wollte nach einigen Jahren in der Forschung und ihrer Tätigkeit bei Nokia Bell Labs gerne sehen, was aus den Ideen – der Ideation und der Suche nach Innovationen – am Ende tatsächlich wird. Denn zuvor hatte sie nach dem Innovationsprozess mit dem Prototyp die tatsächliche Implementierung an andere Abteilungen übergeben. „Ich hatte keinen Eindruck davon, was dann tatsächlich mit meinem Prototyp entsteht“, so Nesrine. Deshalb ist sie dann als Produktmanagerin für Video-Themen zu Skype gewechselt.
Dort gab es eigene Abteilungen, die sich zum Beispiel mit Audio oder dem Bezahlen beschäftigten, „ich musste aber, damit mein Video-Bereich gut läuft, ständig in Austausch mit den anderen Abteilungen treten“, so Nesrine. So hat sie auch viel Erfahrungen damit gesammelt, wie man weltweit in Teams zusammenarbeitet, denn das Payment-Team war zum Beispiel in den USA angesiedelt, sie selbst aber in Stockholm.
Es gibt riesige Unterschiede, zwischen ihrer alten Forschungstätigkeit und der neuen als Produktmanagerin, beschreibt Nesrine. Früher waren ihre Prototypen ihre Babys, ihr Eigentum. „Als Produktmanager gehört dir gar nichts mehr“, beschreibt sie den mentalen Unterschied. „Du hilfst den Teams.“
Es sei ihr deshalb zunächst schwergefallen, den Wert ihrer Arbeit zu erkennen, „aber natürlich ist meine Arbeit wertvoll“, so Nesrine. „Sie sind sehr gut daran, für sich das Wie zu definieren“. Das Was und Warum sei aber sehr wichtig – und ihre Aufgabe als Produktmanagerin, das immer wieder ins Team zu tragen. „Wenn wir nicht definieren, warum wir etwas machen, gibt es viel Verwirrung“, so Nesrine, So sei ihr dann klar geworden, dass ihre große Aufgabe darin besteht, sehr kommunikativ gegenüber dem Team zu sein, um klarzumachen, was das zugrundeliegende Was eines Features ist, „aber noch mehr, warum wir es überhaupt entwickeln“, so Nesrine. Denn das Warum beeinflusse das Wie ganz massiv.
Am Anfang habe sie bei Skype den Fehler gemacht, sich zu stark in das Wie einzumischen. Als Produktmanagerin mit einem technischen Hintergrund kann sie hier natürlich wissend mitreden. „Aber ich habe sehr schnell festgestellt, dass das das Vertrauen des Teams in das Produktmanagement beeinflusst“, so Nesrine. Dem Team die Hoheit über die Entwicklung zurückzugeben, und „ihnen zu vertrauen“, sei viel besser, die langfristige Beziehung dadurch gestärkt worden.
Ihre Empfehlung sei deshalb, dass auch ein Produktmanager mit einem technischen Hintergrund, sich nicht zu sehr in die konkrete Umsetzung, in das Wie, einmischen solle.
Ein wichtiger Lerneffekt bei Skype sei für sie das team- und länderübergreifende kollaborative Arbeiten gewesen. Und eine weitere sehr wichtige Erkenntnis sei es gewesen, dass das übergreifende funktionale Zusammenarbeiten sehr wichtig sei, sagt Nesrine. Obwohl sie für den Videobereich verantwortlich war, sei es fundamental wichtig gewesen, mit den anderen Bereichen zusammenzuarbeiten. Der Grund: Ansonsten verfalle man schnell in die eigene Arbeitsblase und vergesse den Gesamtzusammenhang.
Warum Nesrine zu Spotify wechselte
Nach ein paar Jahren empfand Nesrine das Videokonferenztool Skype vom Reifegrad her als gut entwickelt. Deshalb wechselte sie ebenfalls in Stockholm zu Spotify, um dort Audios im Raw-Format in ein konsumierbares Format zu transferieren. „Etwas Großes sollte in etwas Konsumierbares transferiert werden“, so Nesrine. Sie sei auch von der Arbeitskultur dort fasziniert gewesen – Spotify hat mit den Squads und Tribes ein Modell entwickelt, um agiles und selbstorganisiertes Arbeiten in größeren Unternehmenszusammenhängen zu praktizieren.
„Mich hat dort wirklich der Reifegrad der Agilität überrascht“, sagt Nesrine. Es sei nicht einfach nur darum gegangen, Scrum oder Kanban als Methode anzuwenden, „sondern Spotify ist kollaborativ, offen für Veränderungen, ist in der Lage, zu stoppen, zu untersuchen und zu adaptieren.“
Als Teil eines Squads beschäftigte sich Nesrine mit Podcast als Teil der Strategie „Audio First“. Damit sei eben nicht „Audio only“ gemeint, so Nesrine, weshalb ihr Team sich alle Arten von Medien angeschaut hat, die Audios bereichern können. Beispielsweise beschäftigte sie sich mit der Integration von kleinen Kanvas-Clips und -Loops oder mit Video-Podcasts. „Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir der generellen Strategie folgen können, aber dennoch offen für andere Medientypen bleiben“
In den vier Jahren ihrer Tätigkeit hat sich die Anzahl der Beschäftigten verdoppelt. Und dennoch gab es weiterhin eine große Autonomie der Teams.
Wieso Nesrine zu Google wechselte
Als Nesrine Skype einige Jahre zuvor verließ, dachte sie, dass ein hoher Reifegrad im Bereich von Videokonferenzen erreicht worden sei. Aber während der Pandemie wurde klar, dass hier noch viel Verbesserungspotenzial besteht. Zum Beispiel befand man sich dort plötzlich in einer Umgebung, die laut und schlecht beleuchtet war. Auch sechs Jahre alte Kinder mussten mit den Tools arbeiten können, Yoga-Klassen fanden plötzlich online statt.
Nesrine sah hier also einen neuen Bedarf und entschloss sich, bei Google Meet anzufangen. „Das ist aktuell sehr spannend, denn hier passiert gerade unglaublich viel“, so Nesrine. So arbeite man dort an Möglichkeiten, dass die Menschen von zuhause arbeiten können, aber dennoch unter den besten Rahmenbedingungen zum Beispiel in Bezug auf ihre Privatsphäre oder die Unterhaltungsqualität.
Eine Besonderheit: Nesrine betrat aufgrund der Pandemie das Büro in den ersten sechs Monaten nicht einmal. Dennoch habe die Einführung in den Job – das Onboarding – sehr gut funktioniert. Sie erhielt alle ihre Materialien und wurde drei Wochen lang online eingearbeitet. „In meinen ersten zwei Wochen traf ich ausschließlich Kollegen in individuellen Gesprächen“, um sich gegenseitig vorzustellen.
Alle neuen Beschäftigten wurden am Anfang in speziellen Teams zusammengefasst, wo sie gemeinsam an einer Idee arbeiteten, die sie nach drei Wochen präsentierten. „Wir haben alle das gleiche Ziel verfolgt, nämlich Wissen zu teilen und zu lernen“, so Nesrine. Das mache dieses Konzept sehr erfolgreich.
Was Nesrines Schlussfolgerungen für das Projektmanagement mit Medien sind
Für sie sei Medien-Projektmanagement technisches Projektmanagement, fasst Nesrine zusammen. Das Ziel sei es, die unfertige Technologie in etwas zu transferieren, „was Nutzerprobleme löst“. Zudem sei es sehr wichtig, die Trends zu kennen, die sich immer wieder rasant verändern.
Als Beispiel nennt Nesrine die Arbeiten an der Audioqualität bei Spotify. Zuvor gab es hierzu zwei Stufen – hoch und mittel. Als Spotify immer mehr in den asiatischen Raum expandierte, sei klar geworden, dass es hierzu noch eine Anpassung geben muss. „Aber es war nicht möglich, einfach die Bitrate der Audios etwas zu reduzieren“, so Nesrine. „Sondern wir mussten uns anschauen, welcher Code besser zu geringeren Bitraten passte.“
Product Jobs
Auf dem Digitale Leute Summit 2021 beschrieb Nesrine Changuel, wie sie in unterschiedlichen Unternehmen unterschiedliche Herausforderungen in Bezug auf das technische Projektmanagement von Medien bewältigte – und was die Unterschiede in der Arbeitsweise sind.
Über Nesrine Changuel: Geboren in Tunesien, studierte Dr. Nesrine Changuel Elektrotechnik in Grenoble. Zunächst arbeitete sie als Forschungsingenieurin bei Bell Labs Nokia als Spezialistin für Videocodierung und Streaming. In den letzten acht Jahren war sie für die Verwaltung von Verbraucherprodukten zuständig und hat sich dabei auf strategische Initiativen bei Skype und Spotify konzentriert. Derzeit arbeitet sie an Google Meet, um Videokonferenzen universell zugänglich und nützlich zu machen.
Autor: Jörg Stroisch