Peter Sunna, Head of Product bei Contentful
20. September 2018Vita
Schon während seines Studiums an der Umeå Universität, entwickelt und vertreibt Peter Sunna ein auf Subscription basierendes CMS. In den Jahren nach seinem Studium arbeitet er für verschiedene Firmen am EPiServer CMS oder zum Beispiel an einem Software Framework für Hallvarrson & Halvarsson. Nach zwei Jahren als Product Manager bei EPiServer zieht der 41-jährige Schwede mit seiner Familie für Contentful nach Berlin, wo er seit dem das Startup als Head of Product prägt.
Obama, Merkel und Putin begrüßen uns als riesige Murals, als wir den Gewerbehof Ritterstraße für unser nächstes Interview in Berlin betreten. Wir wollen herausfinden, wie Produktentwicklung in einem rasant wachsenden Startup funktioniert und werden in den ersten Minuten unseres Besuchs von einer ganz eigenen Atmosphäre vereinnahmt. Als uns Peter Sunna am Empfang abholt, entschuldigt er sich für die vielen Baustellen in und am Office. Später, während unserer Office-Tour, treffen wir auf den verschiedenen Etagen immer wieder auf Handwerker. Hier wird ständig gebaut und er ist gestern erst in sein neues Büro umgezogen, erklärt uns Peter. Contentful ist in den letzten drei Jahren von 30 auf 200 Mitarbeiter gewachsen. Das Berliner Startup, das ein Headless CMS entwickelt, gilt als der nächste Hotshot der Szene. Wie zu erwarten zeichnet Peter im Interview eine kühne Produktstrategie.
Hallo, Peter, als wir den Gewerbehof betreten haben, hat uns gleich etwas gepackt. Wie ist es für dich, bei Contentful zu arbeiten? Spürst du das noch?
Ich glaube, im Laufe der Jahre ist Contentful zu so etwas wie einem Hub geworden. Einem Hub für Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Backgrounds. Und einem Hub für Menschen, die wirklich an das glauben, was sie machen. Das kann man spüren.
Hier bei Contentful arbeiten wir an etwas, was es so noch nicht gegeben hat. Wir haben eine große Vision von dem, was Contentful sein soll. Und man spürt, dass die Leute hier bei Contentful daran glauben.
Was ist die Vision von Contentful?
Unsere Vision von Contentful ist, das Content Backbone des Internets zu sein, als Teil des Übergangs von klassischen Content-Management-Systemen hin zur Content-Infrastruktur. Wir befinden uns damit zwischen einer Komplettlösung und einem selbst programmierten System. Das setzen wir mit cloudbasierten Infrastruktur-Bausteinen um. Das ist zugegebenermaßen eine große Vision und wir wissen auch, dass es vielleicht niemals so weit kommen wird. Aber es ist etwas, auf das wir hinarbeiten können.
Unsere Vision von Contentful ist, das Content Backbone des Internets zu sein.
Wie hat sich die Vision im Laufe der Zeit verändert?
In diesem Jahr haben wir unsere Mission deutlich überarbeitet und eine Refokussierung vorgenommen. Wir konzentrieren uns nun auf den Einsatz im Unternehmensbereich. Wobei wir uns nach wie vor an Softwareentwickler richten. Wir wollen, dass Entwickler unsere Plattform ausprobieren und verstehen, was wir für sie tun können. Um es dann im Unternehmen oder für das Projekt, an dem sie gerade arbeiten, einzusetzen. Unsere ursprüngliche Vision hängen wir damit nicht an den Nagel. Aber wir fokussieren uns mehr.
Was bedeutet es, Head of Product bei Contentful zu sein? Wie füllst du diese Rolle aus?
Tatsächlich hat sich das im Laufe meiner drei Jahre bei Contentful immer und immer wieder geändert. Sowohl meine Sicht als auch die Sicht anderer auf diese Rolle. Der Head of Product hat zuerst einmal die Aufgabe, die Produktvision zu skizzieren: wohin es geht, warum wir etwas tun und was wir in Bezug auf unsere Marktposition erreichen wollen.
Product Jobs
Aber es geht auch darum, den richtigen Kontext zu liefern. Die Frage ist, wie stellen wir sicher, dass die Mitarbeiter den richtigen Kontext haben, dass sie wissen, was sie wissen müssen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen? Darum würde ich sogar sagen: Die wichtigste Aufgabe des Head of Product ist es, sicherzustellen, dass alle diesen Kontext haben.
Wie stellst du diesen Kontext zur Verfügung?
Ich glaube, es ist wichtig, zu verstehen, dass das nicht etwas ist, wofür nur ich verantwortlich bin, sondern jeder im Team. Insbesondere die Product Manager (PMs). Sie sollten die Treiber dafür sein. Mein Job ist es, sicherzustellen, dass erst einmal die PMs den richtigen Kontext haben, um sie dann zu incentivieren, dass sie diesen Kontext auch an alle anderen weitergeben. Meiner Meinung nach ist das besonders wichtig, wenn man eine Inhouse-Entwicklung hat mit den üblichen Spannungen zwischen Tech und Product. Wenn man dann einem PM und einem Engineering Lead eine Frage zum Produkt stellt, sollten eigentlich beide eine ähnliche Antwort geben. Dann sind beide aligned. Das war bei Contentful nicht immer so.
Wie ist dein Team zusammengesetzt?
In der Produktabteilung sind wir aktuell 18 Leute, die in Teams und Gruppen gegliedert sind. Wobei ich unseren Customer Service gerne dazuzähle und sie Mini-PMs nenne. Sie sind jeden Tag mit den Kunden in Kontakt und arbeiten mit ihnen zusammen. Wir sind bei Contentful schon immer sehr produktfokussiert gewesen. Zurzeit orientieren wir uns mehr und mehr in Richtung Kunde und Nutzer.
Wie sind die Teams und wie die Gruppen organisiert?
Wenn man sich die Level anschaut, haben wir das Team-Level, das Gruppen-Level und das Produkt-Level. Auf dem Team-Level wird mit zweiwöchigen Sprints meist in Scrum gearbeitet. Sie folgen alle dem gleichen Framework, haben aber auch die Freiheit, zu experimentieren. Auf dem Gruppen-Level treffen sich die Manager alle zwei Wochen. Eine der größten Herausforderungen in der Skalierung ist es, wie man von einem erfolgreichen Team auf zwei erfolgreiche Teams kommt, da es immer Abhängigkeiten gibt. Das versuchen wir mit dem Gruppen-Level in den Griff zu bekommen, auf dem die KPIs verteilt werden. Geht man noch ein Level höher, stellt sich die Frage, wie man die Gruppen wiederum miteinander vernetzt. Dafür haben wir verschiedene Methoden entwickelt, die gut funktionieren.
Welche sind das?
Da haben wir zum Beispiel den Sprint Basar. Nach jedem Sprint kommen alle Teams in unserem Meetup Space zusammen und präsentieren beim Sprint Basar an einem eigenen Stand. Sie zeigen, woran sie die letzten zwei Wochen gearbeitet haben, welche Learnings sie gemacht haben und was ihre nächsten Schritte sind. Jeder kann zu jedem Stand gehen und seinen Input geben.
Das Besondere am Sprint Basar ist, dass nicht nur Produktmanager daran teilnehmen. Die ganze Firma ist aufgerufen, dabei zu sein, und wir gehen mittlerweile sogar so weit, dass wir auch unsere Kunden dazu einladen. Der Sprint Basar ist ein unternehmensweites Experiment, das uns hilft, die ganze Firma zu alignen und einen engeren Kontakt zu den Kunden zu pflegen. Das haben wir von einer Kundentour mitgebracht, die wir in den USA gemacht haben.
Das klingt nach einer transparenten Produktentwicklung. Welche Rolle spielt Transparenz bei Contentful?
Contentful ist die transparenteste Firma, in der ich je gearbeitet habe. Unsere neuen Mitarbeiter wundern sich manchmal, dass wir bei einem Meeting einfach so unsere Umsatzzahlen kommunizieren. Wir sind schon sehr offen, wenn es um unsere Ergebniszahlen geht, und auch bei der Art, wie wir arbeiten. Herzstück ist unser Wiki. Ich würde mal behaupten, wir sind schon sehr gut in der Dokumentation. Du findest wirklich alles im Wiki. Das Problem ist allerdings, je mehr man dokumentiert, desto schwerer wird es, etwas zu finden. Aber es zeigt eben, wie ernst wir es mit der Transparenz nehmen.
Welche weiteren Methoden nutzt ihr, um die Gruppen miteinander zu vernetzen?
Alle zwei Wochen treffen sich die Product Manager, Engineering Manager und Direktoren zu einem Strategy Checking. Dort arbeiten wir an etwas, das wir „Strategy Map“ nennen. Wir zoomen ein wenig aus der alltäglichen Arbeit heraus, lassen die kleinen Aufgaben ruhen und schauen, welche Ziele wir aktuell haben. Im Strategy Checking diskutieren wir das kurz an. Dazu nutzen wir einen Portfolio Kanban, auf dem die Strategy Map, die drei Erfolgsfaktoren, Initiativen und ihre Stadien zu finden sind.
Ihr seid in den letzten Jahren rapide gewachsen. Wie akquiriert ihr neue Mitarbeiter?
Contentful genießt hier in Berlin einen guten Ruf und wir sprechen viel auf Meetups, treffen neue Leute. Das macht sich schon in unseren Bewerberzahlen bemerkbar.
Auf der einen Seite sind wir ganz gut darin, unsere interne Unternehmenskultur zu pflegen, Mate im Haus zu haben und Tischtennisturniere zu organisieren. Auf der anderen Seite kennt man uns dafür, ein ziemlich erfolgreiches Produkt zu bauen. Wir versuchen unseren Bewerbern zu vermitteln: Wenn du ein erfolgreiches Produkt entwickeln willst, wenn du dich als Person weiterentwickeln willst, wenn du ein High Performer sein willst, dann bist du bei Contentful richtig. Du wirst mit High Performern zusammenarbeiten, viel lernen und wertvolle Erfahrungen sammeln. Du kannst hier in Bezug auf deine Domäne viel darüber lernen, wie man im Team arbeitet. Und wann es Zeit ist, sich schnell zu entscheiden, aber auch, wann es wichtig ist, sich für eine Entscheidung Zeit zu nehmen. Gerade was die Entscheidungsgeschwindigkeit angeht, haben wir bei Contentful viel Erfahrung. Ich würde sogar sagen, weil wir es geschafft haben, diesbezüglich so gut zu sein, konnten wir so erfolgreich sein.
Kannst du dazu ein Beispiel nennen? Was meinst du genau mit „langsam entscheiden“?
Gerade als B2B-Firma gibt es viele Dinge, die man nicht vorschnell entscheiden sollte. Das beste Beispiel hierfür ist unsere API, der Kern unseres Produkts. Wenn wir etwas an der API ändern, dann ist das schwer im Nachhinein zu ändern. Denn das würde für die Kunden bedeuten, dass sie ihre Produkte anpassen müssen. Wir nennen das einen „Breaking Change“.
Wenn das etwas ist, was man am nächsten Tag wieder zurückrollen kann, dann kannst du mit der Entscheidung schnell sein und auch mal etwas testen, was völlig Banane ist. Ansonsten gilt, sich wirklich gut zu überlegen, was man hinzufügen will, weil es das Produkt komplexer macht.
Denkt ihr öfter daran, etwas hinzuzufügen oder etwas wegzunehmen?
Als leichtgewichtiges, schlankes Produkt denken wir viel mehr darüber nach, was wir als Nächstes hinzufügen. Allerdings ist es auch Teil unseres Mindsets, Features wegnehmen zu können. Vor sechs Monaten hatten wir ein großes Event, bei dem wir zum ersten Mal einige große Komponenten aus dem System erfolgreich entfernt haben.
Um was ging es dabei?
Es ging um die Integration eines DAMS, eines Digital-Asset-Management-Systems. Wir bemerkten ein Problem, als vermehrt Bug Reports reinkamen. Die Entwickler, die sich die Reports angesehen haben, haben vorgeschlagen, das System komplett neu zu bauen. Sie waren der Meinung, dass ein Fix zu neuen Bugs führen würde. Außerdem war die Architektur dergestalt, dass die Arbeit an der Integration nur langsam vonstattengehen konnte.
Wie kam es dann zur Entscheidung, die Integration zu entfernen?
Das ist die Aufgabe der PMs. Sie sammeln alle Informationen und tauschen sich mit Sales aus, um herauszufinden, welche Rolle diese Features spielen und welche Kunden sie verwenden. Natürlich schauen sie auch auf die Daten und sehen dann, wie stark diese Features verwendet werden. Da haben wir gute Metriken. Wenn es mehr als 50 Prozent der Kunden betroffen hätte, dann wäre das eine Sache für das obere Management gewesen. So war es eine Sache der PMs.
Nutzt ihr Methoden wie Cost of Delay, um eine Entscheidung zu fällen?
Im Moment noch nicht, auch wenn wir uns das immer wieder überlegen. In diesem Fall haben wir uns einfach angesehen, wie viel Umsatz wir dadurch generieren. Letztendlich war das keine große Sache, da wir mit den Kunden, die das Feature nutzen, gesprochen haben. Wir konnten sie von einer Alternative überzeugen. Das ist der große Vorteil, wenn du eine so enge Geschäftsbeziehung zu deinen Kunden pflegst.
Wie ermutigst du deine POs und PMs, eigenständige Entscheidungen zu treffen?
Ich glaube, das ist eine der wichtigsten Fragen in einem schnell wachsenden Startup: Wann werden welche Entscheidungen von wem getroffen? Eine Möglichkeit, die PMs zu eigenen Entscheidungen zu ermutigen – und so halte ich das hier bei Contentful –, ist, die PMs eine klare Empfehlung abgeben zu lassen, nachdem sie die möglichen Alternativen dargestellt haben. Das ist ein guter Weg, um ihnen zu zeigen, welche Entscheidungen sie selbst treffen können und welche nicht.
Product Jobs
Im Rückblick: Wie ist die Entwicklung von Contentful bisher aus deiner Perspektive gelaufen?
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es keine Probleme gab. Wir hatten große Herausforderungen zu bewältigen. Am Anfang hatten wir noch eine klassische Trennung in Frontend und Backend. Eine der ersten Änderungen war, die Teams crossfunktional aufzustellen. Wir hatten zwar von Anfang an eine Produktstrategie, aber keiner kannte sie. Das führte zu einem Startup-weiten Projekt, bei dem alle an der Strategie mitarbeiteten. Wir sind von 30 auf 200 Leute gewachsen und wir mussten immer wieder auf die Bremse treten, um alle Mitarbeiter mitzunehmen. Gerade bei Mitarbeitern, die schon eine Weile im Unternehmen sind, kann das hart sein. Sie waren bisher für alles Mögliche im Unternehmen verantwortlich und mussten nun Aufgabenbereiche abgeben. Damit muss man empathisch im Unternehmen umgehen. Mittlerweile haben wir Agile Coaches und wir versuchen, Contentful in eine lernende Firma zu transformieren. Das zeigt sich auch bei unserer vorhin erwähnten Strategy Map. Dabei geht es darum, zu fragen, was wir in einem bestimmten Bereich lernen wollen, und weniger darum, was jetzt die genauen Ergebnisse sind.
Wir kommen langsam zum Ende des Interviews und haben wenig über Tools gesprochen. Auf welches Tool kann der Head of Product denn gar nicht verzichten?
Ich bin ein großer Google-Docs-Fan! Echtzeit-Kollaboration ist ein Game Changer in der Produktentwicklung, und wenn ich manchmal in andere Unternehmen schaue und die benutzen kein Google Doc, frage ich mich oft, wie Kollaboration ohne Google Docs da überhaupt möglich ist.
Zum Schluss: Wodurch lässt du dich inspirieren?
Obwohl ich nie ein großer Microsoft-Fan war, mag ich wirklich, was Bill Gates macht. Seit er Microsoft verlassen hat, veröffentlicht er eine Leseliste, die sich mehr auf übergeordnete Themen fokussiert. Davon versuche ich jedes Jahr ein paar Bücher zu lesen. Ich bin ein großer Fan der Arbeit von Bill Gates und er ist eine große Inspiration.
Welche Bücher kannst du empfehlen?
Steven Sinofsky, auch ein Microsoft-Mann, der das Blog „Learning by Shipping“ betreibt, hat das Buch „One Strategy“ geschrieben, in dem er über das Treffen schwieriger Entscheidungen in großen Unternehmen spricht. Er beschreibt die Spannung zwischen der Startup-Denke, der schnellen, agilen Entwicklung, und dem großen Konzern, in dem er zum Beispiel Windows 7 mit der Waterfall-Methode entwickelt. Ich liebe es, diese unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt zu bekommen. Ich glaube, im Grunde ist alles eine Frage der Balance.
Vielen Dank für das Interview.
Dieses Interview wurde am 24. August in den Räumlichkeiten von Contentful in Berlin gehalten.