Wie Sandra Hinz und Rainer Collet von Value Rebels die Suche nach echten Werten unterstützen
14. Juni 2022Um wirklich Werte in einem Projekt zu generieren, reicht es nicht aus, nur agil zu sein, so eine Hypothese von Sandra Hinz und Rainer Collet, die gemeinsam die Produktmanagement-Beratungsagentur Value Rebels gründeten, sondern es kommt auch auf eine echte Experimentierkultur an. Sie führen aus, was die Grundlagen ihres Produktmanagementkonzepts „The Value Engine“ sind. In ihrem Vortrag „Set up an experimentation culture empowering teams to create measurable business value“ auf dem Digitale Leute Summit 2021 widmen sie sich sehr stark dem Weg dorthin.
→ Hier findest du die komplette Aufzeichnung ihres Talks
- In diesem Text lernt ihr
- Welche Missverständnisse es rund ums Produkt gibt
- Welche Herausforderungen daraus resultieren
- Wie das Konzept der Value Engine funktioniert
- Welche Auswirkungen es auf wertvolle Initiativen hat
- Wie die Strategie dadurch abgebildet wird
- Wie sich dadurch die Führungsarbeit verbessert
Das Missverständnis rund ums Produkt
Sandra und Rainer stellen die Hypothese auf, dass ein Grund, warum deutsche und europäische Unternehmen in der Produktentwicklung hinter amerikanischen Konkurrenten hinterherhinken in einem falschen Verständnis der Rolle des Produkts begründet liegt. Mit ihrem Vortrag wollen sie dem auf den Grund gehen.
Sie starten dazu mit einem praktischen Beispiel: Ein Online-Shop soll gerelauncht werden, denn der sieht etwas veraltet aus. Man beginnt dann oft mit einer umfassenden Liste an Anforderungen, „die dann als super-agiles Unternehmen in User Stories herunter gebrochen werden“, so Rainer.
In Sprints werden dann immer mehr Funktionalitäten hinzugefügt. „Und vielleicht werden nach fünf Monaten alle Anforderungen erfüllt“, so Rainer. Und dann stellt sich in einem A-/B-Test heraus, „dass die neue Website nicht wirklich funktioniert“ – Denn alle Zahlen gehen in den Keller. „Monatelange Arbeit ist damit für den Müll“, resümiert er.
Häufige Probleme im Projektmanagement
Dass solche Entwicklungen vor großen Herausforderungen stehen, lasse sich auch an einigen typischen Zitaten festmachen, schildert Sandra weiter. Sie unterteilt diese Herausforderungen in drei Bereiche:
- Etablierung einer wertegetriebenen Entwicklung: „Wir müssen das hinbekommen“, so Sandra, „um schnell die Abhängigkeiten messen zu können.“
- Reflexion der Strategie in der täglichen Arbeit: „Wir müssen unsere tägliche Arbeit mit der Gesamtstrategie kombinieren“, ergänzt Sandra, „damit wir die richtigen Prioritäten setzen können.“
- Eine bessere Führungsarbeit sicherstellen: „Führungskräfte müssen sich mehr mit dem Kontext beschäftigen und nicht mehr mit der Feature-Roadmap“, fordert Sandra, „damit sie nicht ins Micromanagement verfallen.“
„Es gibt einige sehr bekannte Tools für die Strategie-, Auslieferungs- und Erforschungsebene“, sagt Sandra. „Und diese funktionieren, aber sie verbinden die unterschiedlichen Ebenen nicht ausreichend miteinander, insbesondere, wenn sich Unternehmen im Wachstum befinden.“
Das Konzept der „Value Engine“
Als eine mögliche Lösung dieses Dilemmas präsentieren Sandra und Rainer ihr Konzept der „Value Engine“. Auf den ersten Blick, so Rainer, sieht es wie ein einfaches, aber unternehmensweites Kanban-Board aus, „welches alle potenziell einflussreichen, wertvollen Initiativen aufzeigt.“ Diese Umstellung sei aber ein großes Veränderungsprojekt, so Rainer. „Die Transparenz des Kanban-Boards wird diesen Kulturwandel unterstützen.“
Eine wesentliche Grundannahme des Modells ist es, dass das gleiche Team, welches über die Aufnahme von Initiativen ins Backlog entscheidet, diese auch ausführt. Das heißt, dass alle Teammitglieder sowohl im Bereich Entdecken, als auch im Bereich Ausliefern tätig sind. Schematisch stellt sich das wie ein Tunnel dar. „Häufig gibt es am Anfang eine hohe Unsicherheit über die Aufgaben“, so Rainer. Das Problem dabei: „Trotzdem wird dann ein Item bis zum Ende durchgezogen.“ Dabei müsse man Prototypen auf Basis der Einsichten während des Prozesses erstellen, fordert Rainer.
Die unterschiedlichen Stufen der Value Engine
Entsprechend ist es die Aufgabe jedes einzelnen Schritts in dem Tunnel, mehr Einsichten zu generieren, um sich darüber klar zu werden, welche Items nicht genügend Werte produzieren. Diese Items und Initiativen müssen dann konsequenterweise aussortiert werden. Die unterschiedlichen Stufen:
- Idee: „Es ist am Anfang sehr einfach, sehr viele Ideen zu generieren“, ist Rainer überzeugt. Sie können von jedem zu jeder Zeit kommen. „Sie müssen sehr einfach gehalten werden.“ Entsprechend adressieren sie sehr kurz die Ängste und Wünsche, die damit verbunden sind. Und dann wird entschieden, welche dieser Ideen für den nächsten Schritt weiter entwickelt werden. Entscheidende Faktoren sind hier die Fragen nach der Verbundenheit zur Strategie und nach der Kapazität. „Wenn diese Fragen nicht beantwortet werden können, werden sie aussortiert“, so Rainer. „Sie werden nicht aufbewahrt.“ Als Beispiel führt Rainer aus, dass auf dieser Stufe vielleicht 100 Ideen entwickelt werden.
- Auswahl: „Für diese Stufe gibt es eigentlich nur eine einzige, aber dafür sehr wichtige Anforderung“, beschreibt Sandra. „Es muss für die Initiative ein Team zusammengestellt werden.“ So einfach wie das klingt: Das geht oft schief. Das Team sollte so klein und so divers wie möglich sein, „damit es die Idee im nächsten Schritt konzeptionieren kann“. Es sollten hier nicht nur Mitarbeiter aus der Produktentwicklung mitmachen, sondern zum Beispiel auch aus dem Design, der Analyse, dem Kundenservice etc. Ein Tipp aus der Praxis ist hier, dass der Projektmanager die Aufgabe nicht nur aufschreibt, sondern die Teammitglieder in individuellen Gesprächen darauf einstimmen, die Erwartungen etwa an die Ressourcen klären sollte. Hier fließen vielleicht noch 30 der 100 Ursprungsideen ein.
- Entwurf: In der Entwurfsphase werden die Unsicherheiten zur Idee adressiert. Dabei soll herausgefunden werden, ob die Initiative zur Strategie passt, wie die Wettbewerber mit der Idee umgehen und was die qualitativen und quantitativen Daten darüber aussagen. „Danach besteht ein klares Konzept“, so Rainer. „Und auch die Abhängigkeiten sind geklärt.“ Am Ende fließen hier etwa 20 der 100 Ursprungsideen ein.
- Hack: „Es ist hier nicht das Ziel, einen voll funktionsfähigen Prototypen zu erstellen“, schränkt Sandra ein. „Aber es soll der quantitative Einfluss der Initiative auf eine kleine Anzahl von Nutzern messbar sein.“ Natürlich sollte auch in dieser Stufe sichergestellt werden, dass einige Ansätze verschwinden; vielleicht 10 der ursprünglich 100 Ideen schaffen es auf diese Stufe. Hier geht es nun auch nicht mehr um die Reduzierung von Unsicherheiten, sondern es wird in die technische Umsetzung investiert. „Aber es sind weiterhin Experimente“, so Sandra, „die potenziell gefährlich sind, wenn man sie mit großem Aufwand betreibt.“ Deshalb sollte die Anzahl der Nutzer, mit denen sie getestet werden, Schritt für Schritt ausgeweitet werden. Außerdem sollten solche Experimente ständig stattfinden und ihre Auswirkungen auch messbar sein. Es muss also ein MMP – ein „Minimum Measurable Product“ – erstellt werden.
- Ship: Die Fragen werden hier sehr viel spezifischer. Schrittweise wird eine Initiative ausgeliefert und der Blickwinkel erweitert. Zum Beispiel wird geschaut, ob sie auch für mobile Nutzer gut funktioniert. „Wir wollen lernen, wie es gestaltet werden muss“, nennt Rainer den Fokus. „Wir wollen nicht in Code investieren, bevor wissen, ob wir diesen Code überhaupt brauchen.“ In der Endausbaustufe wird das Produkt dann als MVP – Minimum Valuable Product – an 100 Prozent der Nutzer ausgespielt. Nur etwa 5 der ursprünglich 100 Ideen schaffen es auf diese Stufe.
- Tune: Nachdem der Tunnel durchlaufen wurde, wurde die Unsicherheit auf nahezu Null reduziert, so Sandra. „Jetzt können wir eine überlegte Investitionsentscheidung treffen.“ Es sei jetzt viel besser abzuschätzen, wie teuer die Umsetzung sei. Deshalb sei nun der Entscheidungspunkt gekommen, wie viel investiert werden soll und wie viel die Umsetzung wert sei. „Und wenn das Gefühl besteht, dass die Investition es nicht wert ist, dann sollte die Idee verworfen werden“, selbst auf dieser Stufe. Vielleicht 3 der ursprünglich 100 Ideen schaffen es bis zu dieser Stufe.
So wird die Initiative zu einem „Maximum Lovable Product“, ist Sandra überzeugt, für alle Seiten. Die Reduzierung der ursprünglich 100 Ideen auf am Ende 3, die umgesetzt werden, „schützt das Unternehmen vor schlechten Investitionen“, so Sandra.
Erfahrungswerte rund um die Umsetzung in der Praxis
Kleinere Fehlerbehebungen und Features – von Sandra „Pebles & Sand“ genannt – müssen nicht auf dem Value-Engine-Board sichtbar sein, „sie können über das Team-Backlog abgearbeitet werden“, so Sandra.
Aber es sei sinnvoll, dass jedes Team zu 70 Prozent an den großen Initiativen arbeitet, die sie „Rocks“ nennt. Diese sollten dann auch auf dem unternehmensweiten Value-Engine-Board zu sehen sein. Jedes Team könne dabei parallel an mehreren Rocks arbeiten; ausgelegt ist das Konzept auf einen Zyklus von vier Monaten.
Rainer zeigt auf, was der Unterschied zu „klassischen“ agilen Projekten ist: Dort gibt es eine sehr lange Entwicklungsphase, bei denen Anforderungslisten abgearbeitet werden. Die vielen verschiedenen Stufen der Value Engine funktionieren anders. Hier wird zum Beispiel schon nach einer Woche ein Feature ausgespielt – an zum Beispiel 1 Prozent der Nutzer, wie Rainer schildert. Die Initiative erklimmt die Stufe und wird auf dem Weg dorthin reduziert und verworfen – oder eben weiter getragen.
„Nach einem Monat werden so bereits Werte geschaffen“, so Rainer, wohingegen in der klassischen Vorgehensweise davon noch sehr lange nichts zu sehen ist – und es auch zu kompletten Fehlentwicklungen kommen kann. Und zudem werde die Entwicklungsgeschwindigkeit erhöht.
Was die Konsequenzen sind
Nur die wertvollsten Initiativen werden es bis zum Ende schaffen, so Sandra. Um das zu erreichen, wird zum Beispiel auch ein „Draft Review“ eingeführt, bei dem noch einmal die Resultate präsentiert und diskutiert werden. Das sorge einerseits für große Transparenz, aber generiere auch sehr viele gute neue Einsichten. Außerdem sei es obligatorisch, dass etwas Messbares produziert werden muss, bevor es ausgerollt werde.
Aber es sei auch wichtig, dass die Strategie des Unternehmens immer wieder abgebildet werde, so Rainer. „Es wird nur das ausgewählt, was auch zur Strategie passt.“ Und das wird wöchentlich hinterfragt, „anstelle, dass das Topmanagement irgendetwas erstellt, was an der Basis keinen interessiert“. Man könne hier auch gut mit den OKR – den Schlüsselresultaten – arbeiten, und dann auch gut den Erfolg messen. „Es wird in der Ship-Phase nicht berichtet, welche neuen Features implementiert wurden“, so Rainer. „Sondern wie gut die OKR erreicht werden.“ Auch diese seien ständig präsent und in dem Entwicklungsprozess fest verankert.
Aber die Value Engine hilft auch dabei, dass Unternehmenschefs einen besseren Job machen können. „Wir betrachten die Value Engine als eine gigantische Leadership-Toolbox“, sagt Sandra dazu. „Wenn sie richtig genutzt wird.“ Es gebe an vielen Stellen Coaching-Möglichkeiten. Sehr wichtig sei, dass mit dem Konzept nun auch für den Chef Transparenz darüber bestehe, wie der Prozess voranschreite. Sie können sich nun darauf konzentrieren, ihre Teams zu unterstützen, indem sie Hemmnisse aus dem Weg räumen. Gleichzeitig werden sie ermutigt, neue Ideen ständig auszuwählen – und nicht nur einmal im Quartal.
Ein sehr wichtiger Unterstützungspunkt durch Führungskräfte sei auch die Zusammenstellung des Teams, so Sandra. Zudem wird durch das Konzept eine Experimentierkultur gefördert. Eine ganz praktische Empfehlung ist, dass wöchentlich auf einem Board die Initiativen in der Ship-Phase durch die Teamleiter aktualisiert werden – inklusive der dazu passenden Messmetriken. Auch das erhöht die Transparenz. „Die Führungskraft kann damit über die Metriken sprechen und muss nicht über Features diskutieren.“
Product Jobs
Über Sandra Hinz und Rainer Collet: Sandra und Rainer gründeten gemeinsam die Agentur Value Rebels, die sich um ein zielgerichtetes Projektmanagement kümmert. Sandra Hinz hat ihre Wurzeln in der Beratung, dem agilen Coaching sowie dem Projektmanagement, unter anderem für die Deutsche Telekom und für Zooplus. Rainer Collet hat über zehn Jahre Erfahrung als CPO und Product Leader für Unternehmen wie Zooplus, real-digital, Westwing, Otto GmbH & Co KG und Breuninger gesammelt. Rainer studierte Informatik und begann seine Karriere als Softwareentwickler und Engineering Manager.
Auf dem Digitale Leute Summit 2021 beschrieben Sandra Hinz und Rainer Collet, wie sie konkret die Herausforderungen bei Projekten analysieren und daraus Schlüsse für gute und zielführende, unternehmensübergreifende Entwicklungen ziehen.
Autor: Jörg Stroisch