Dieser Artikel basiert auf dem Vortrag von Martin Eriksson auf dem Digitale Leute Summit 2022. Mit mehr als 25 Jahren Produktmanagement-Expertise in globalen Tech-Unternehmen und als Co-Founder von “Mind the Product” zählt Martin zu einem der profiliertesten Product Leader überhaupt.
Wie kann man Entscheidungen reduzieren und so schneller und besser werden? Was ist der Weg hin zu einer guten Strategie und zu guten Produktprinzipien? Mit dem “Decision Stack” hat Martin ein Rahmenwerk entwickelt, um Organisationen zu helfen sich von oben nach unten auszurichten und gleichzeitig die Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung zu erhöhen und die Entscheidungsflut in der Produktentwicklung zu reduzieren.
- In diesem Artikel lernt ihr
- Warum Entscheidungen wichtig sind
- Wie Entscheidungen reduziert werden
- Wie das Decision-Stack-Modell funktioniert
- Das Fehlen der Strategie
- Das Fehlen der Prinzipien
- Wieso es so wichtig ist, die Strategie und die Prinzipien zu entwickeln
Warum Entscheidungen wichtig sind
Zu viele Entscheidungen können überwältigen. Das Problem: Produktmanager müssen aber immer wieder Entscheidungen treffen – und das an einer zentralen Schnittstelle zwischen Business, Technologie und Nutzern. Das führt aus zwei Gründen zu einer Überforderung:
- Entscheidungsermüdung, „Decision Fatigue“: Roy F. Baumeister/John Tierney beschreiben eine Entscheidungsermüdung: Es wird umso schwieriger, eine Entscheidung zu treffen, je mehr Entscheidungen pro Tag anstehen.
- Wahlparadoxon, „Paradox of Choice“: Auf der anderen Seite steigt auch die Anzahl der Optionen, wie es der Psychologe Barry Schwartz beschreibt. Das führt zu dem Paradox, dass es zwar mehr Alternativen gibt, diese aber dennoch den Kundennutzen senken. Aber auch der umgekehrte Fall – nur wenige Optionen – ist nicht optimal. Der Ökonom Tim Harford sieht hier eine starke Abnahme von Qualität. So liegt vielleicht die Wahrheit in der Mitte. Die Ökonomin Sheena Iyengar sieht eine größere Zufriedenheit bei Nutzern, wenn sie zwischen einer kleinen Anzahl an Alternativen auswählen können.
Die Quintessenz ist: Zu viele Entscheidungen führen zu einer Art “Entscheidungsüberladung”. Es ist also ein strategisches Ziel, die Anzahl an Entscheidungen in einer Produktentwicklung zu reduzieren.
Wie Entscheidungen reduziert werden können
Produktentscheidungen sind aufgrund des Paradoxes der Autonomie so überfordernd. Denn es gibt viele Wege zum Ziel. Und selbst das Ziel ist oft nicht klar. Wenn hier immer wieder individuell entschieden wird, kommt es eben zu einer Entscheidungsüberladung. Die Lösung kann sein: nicht zu viele Wahlmöglichkeiten innerhalb eines Produkts zuzulassen. Der Weg dorthin ist eine strigentere Ausrichtung aller Prozesse im Unternehmen. Martin Eriksson bietet hierfür das Modell der “Decision Stacks” an.
Beispiel für eine Entscheidungsreduzierung:
Barack Obama, Mark Zuckerberg und Steve Jobs treffen keine Entscheidung mehr, welche Klamotten sie tragen wollen. Sie haben sich einmal auf eine Art festgelegt und tragen immer das Gleiche.
Wie das Decision-Stack-Modell funktioniert
Das Decision-Stack-Modell von Martin Eriksson besteht aus insgesamt fünf Ebenen:
- Vision
- Strategie
- Zielvorgaben
- Wege/Möglichkeiten
- Prinzipien
Es funktioniert sowohl von oben nach unten, als auch von unten nach oben. Von oben nach unten steht dabei die Frage des “Wie” im Vordergrund, von unten nach oben die Frage des “Warum”. Auf seiner Website thedecisionstack.com erläutert Martin die Ebenen ausführlich.
Auf dem Digitale Leute Summit 2022 konzentriert er sich in seinem Vortrag auf die Ebenen der Strategie und der Prinzipien. Und das hat auch einen Grund: Beide Ebenen werden seiner Erfahrung nach – obwohl es hierfür viele Frameworks gibt – in vielen Unternehmen und Start-Ups unzureichend berücksichtigt, sind aber immens wichtig für eine Verschlankung der Entscheidungsprozesse.
Das Fehlen der Strategie
Strategie muss bewusst entwickelt und auch im gesamten Unternehmen gelebt werden. Martin beobachtet, dass gerade Start-Ups hierfür viel zu wenig investieren und das, obwohl es zahlreiche Frameworks gibt, die dabei unterstützen.
Tipp: SWOT-Analyse
Martins persönlicher Favorit für die Entwicklung einer Strategie ist die SWOT-Analyse. Hier werden die Stärken (Strengths), Schwächen (Weaknesses), Chancen (Opportunities) und die Risiken (Threats) analysiert und zusammengefasst. Allerdings müssen alle Beteiligten die einzelnen Punkte auch wirklich ehrlich analysieren
Ein Beispiel, wie die SWOT-Analyse funktionieren kann, schildert Martin anhand eines ehemaligen Arbeitgebers, der eine Gebrauchtwagenplattform etablieren wollte. Das Problem: Der Markt für gebrauchte Autos ist in Großbritannien sehr fragmentiert. So gab es keinen Anbieter, der mehr als 2 Prozent Marktanteile besaß. Eine Konsequenz daraus war, dass die Nutzererfahrung in der Regel eher schlecht war. Und auch der Anteil der E-Commerce-Geschäfte in diesem Bereich war im Vergleich zum Durchschnitt sehr schlecht. Daraus ergab sich eine große Chance für einen Markteintritt. Ein große Schwäche eines neu eintretenden Unternehmens ist es allerdings, dass ein hoher Kapitaleinsatz notwendig ist, um Fuß zu fassen. Und das in einer Konkurrenzsituation, in der auch große US-amerikanische Unternehmen mit sehr viel Kapital den Einstieg überlegten. Nach einer Analyse aller dieser Punkte wurde daraus die Strategie abgeleitet, eine gut funktionierende E-Commerce-Plattform zu etablieren, die einen Gebrauchtwagen innerhalb von 48 Stunden überall in Großbritannien ausliefern kann.
Sich Gedanken um eine gute und passende Strategie zu machen, ist essentiell für den Erfolg eines Unternehmens und bildet einen Leitfaden für alle Diskussionen und Entscheidungsprozesse innerhalb des Unternehmens.
Das Fehlen der Prinzipien
Genauso, wie die Strategieentwicklung häufig vernachlässigt wird, werden auch die Prinzipien nicht gut entwickelt. Auch das beobachtet Martin in seiner täglichen beruflichen Praxis. Auch hier gibt es viele verschiedene Frameworks, die dabei helfen, Prinzipien zu entwickeln.
Tipp: Even/Over-Statements
Martins Favorit sind hier Even/Over-Statements, mit denen zum Beispiel auch das agile Manifest (http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html) arbeitet. Ein Beispiel: “Conversion even over Revenue” – Konversion steht hier also über dem Umsatz. Links steht immer das Prinzip, rechts eine Entscheidung gegen etwas.
Entscheidend ist hier der Unterschied zwischen Prinzipien und Werten. Erst Prinzipien machen Werte – die oftmals sehr abstrakt und schön klingend formuliert werden – ausführbar und überprüfbar.
Bei seinem ehemaligen Arbeitgeber Monster.com wurde zum Beispiel definiert, dass die Bedürfnisse der Jobsuchenden über den Bedürfnissen der Jobanbieter stehen. Bei jeder Produktentscheidung steht dieses Prinzip seitdem im Vordergrund – und macht zukünftige Entscheidung einfacher, weil die Auswahl an Optionen geringer wird. Das Even/Over-Statement würde hier also lauten: “Jobsuchende even over Jobanbieter”.
Gute Produktprinzipien haben verschiedene Eigenschaften:
- Sie beschreiben, wie das Produkt erstellt werden sollte und was es ganz konkret bringen soll.
- Sie sind für die eigene Unternehmenssituation definiert.
- Sie sind ausführbar, merkbar und einfach.
- Und sie machen in der Konsequenz Entscheidungen einfacher.
Aus jeder Entscheidung kann ein Produktprinzip entstehen, besonders hilfreich sind hier auch Entscheidungen gegen etwas.
Es gibt zwei Wege, wie Produktprinzipien etabliert werden können: von unten nach oben und von oben nach unten:
- Von unten nach oben: Aus den Entwicklerteams heraus können Produktprinzipien entwickelt werden. Hilfreiche Tools sind hierbei zum Beispiel die Retrospektive, eine Nutzung regulärer Debatten – und Aufmerksamkeit dafür, wozu „Nein“ gesagt wurde, denn das stellt oft ein neues Prinzip dar.
- Von oben nach unten: Auch Führungskräfte können die Prinzipienentwicklung unterstützen, indem sie aus der Strategie heraus entwickelte Kompromisse zu Prinzipien machen, sich überlegen, welche Faktoren die Strategie wirklich zum Erfolg führen und ihr Team dazu befähigen, auch „Nein“ zu sagen.
Wieso es so wichtig ist, die Strategie und die Prinzipien zu entwickeln
Eine gute Strategie und dazu passende Produktprinzipien helfen dabei, den Weg vorzugeben. Oder anders ausgedrückt: Sie helfen dabei, Entscheidungen zu reduzieren. Der Effekt: Dadurch können schnellere und bessere Entscheidungen getroffen werden.
Peter Drucker hat einmal gesagt, dass jeder, der ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hat, irgendwann mal eine mutige Entscheidung getroffen hat. Wer sich nicht ständig mit zu vielen Entscheidungen aufhält, die Anzahl der Entscheidungen reduziert, der schafft Raum: Raum für mutige Entscheidungen.
Product Jobs
→ Hier findest du die komplette Aufzeichnung seines Talks
Über Martin Eriksson: Martin Eriksson ist Produktmanager, Investor, Redner und Autor. Er beschäftigt sich seit über 25 Jahren insbesondere mit Praktiken rund um die Produktentwicklung, unter anderem für The Financial Times, Monster, Huddle, Covestor und Cazoo. Aktuell ist er Product Partner bei EQT Ventures, einer der fünf größten europäischen Risikokapitalfirmen – und beschäftigt sich mit ProductTank und „Mind the Product“ der weltweiten Vernetzung von Produktmanagern.
Auf dem Digitale Leute Summit 2022 beschrieb Martin Eriksson, wie eine gute Strategie und gute Produktprinzipien generell die Anzahl an Entscheidungen reduzieren – und so schnellere und bessere Entscheidungen ermöglichen.
Autor: Jörg Stroisch