Wie Transformation in einem traditionellen Unternehmen organisiert werden kann
22. September 2022Die Klingel Gruppe ist eine von Deutschlands größten Distanzverkäufern mit über 2.500 Mitarbeitern und 52 unterschiedlichen e-Commerce-Websites. In den letzten Jahren wurde hier eine große Transformation angegangen, in deren Zuge die komplette technische Infrastruktur verändert und die Produktorganisation agil wurde. Eine große Herausforderung, von deren Beginn Sven Christian Andrä, Managing Director & CDO bei der Klingel Gruppe, schon vor zwei Jahren berichtete.
Der Vortrag auf dem Digitale Leute Summit 2021 ist eine Fortsetzung des ersten Talks. Zusammen mit Daniel Neuberger beschreibt er in „Riding the Beast – warum Leitprinzipien für die Produktentwicklung in großen Unternehmen wichtig sind“ die Herausforderungen bei der fortschreitenden Transformation hin zu einem innovationsgetriebenen Unternehmen.
→ Hier findest du die komplette Aufzeichnung des Talks
- In diesem Text lernt ihr
- Wie sich bei Klingel die Transformation in den letzten zwei Jahren entwickelt hat
- Welche Rolle das 3-Horizonten-Modell dabei spielt
- Was die besonderen Herausforderungen in Horizont 2 sind
- Warum es so schwierig ist, Teams gleichermaßen für einen Einsatz in Horizont 1 und 2 zu motivieren
- Wie Klingel deshalb die Teams dabei unterstützt
- Wie Horizont 3 angegangen wird
Rückblick auf den Vortrag „Zähmen des Unternehmensungeheuers“
Der Vortrag auf dem Digitale Leute Summit 2021 ist die Fortsetzung seines Talks beim Summit 2019 (https://www.digitale-leute.de/timeslot19/taming-the-corporate-beast-for-large-scale-product-growth-how-to-master-the-transition-to-a-successful-product-organization/). Damals ging es darum, das Unternehmensungeheuer zu zähmen, die Fortsetzung beschäftigt sich damit, wie man es lenken, „reiten“ kann. Als Einstieg gibt Sven deshalb zunächst einen kurzen Rückblick auf das Jahr 2019.
Die Ausgangslage für den Transformationsprozess vor zwei Jahren war, dass man bei Klingel „mit allen großen IT-Projekten scheiterte“, so Sven. Man sei deshalb auf kleine Projekte umgeschwenkt, um nicht zu viel Risiko einzugehen. Vor zwei Jahren sei dann das erste Mal wieder versucht worden, ein großes IT-Projekt anzugehen.
Eine unmögliche Mission, „Mission Impossible“ quasi, die bei Klingel ganz konkret darin bestand, zwei Shopsysteme in eine deutlich offenere, selbst entwickelte IT-Infrastruktur zu migrieren, auf deren Basis dann 57 internationale E-Commerce-Shops aufsetzen. Und das sollte in 15 Monaten gelingen. Die große Herausforderung sei die Zielgruppe älterer Endnutzer, die sich mit dem Digitalen schwerer tue. „Aber das Schwierigste war, dies im Unternehmen selbst durchzusetzen, bei einer seit 100 Jahren bestehenden, traditionellen Vertriebsorganisation“, so Sven. Zwei Dinge spielten für ihn dabei eine große Rolle:
„Walking Skeleton Method“: „Walking Skeleton“ (siehe auch: https://www.techtarget.com/whatis/definition/walking-skeleton) ist ein Weg, Software in einer sehr kurzen Zeit zu entwickeln. Dabei wird mit der Implementierung der IT-Architektur bereits nach der Entwicklung einiger weniger Grundkomponenten begonnen. „Für uns war das der richtige Ansatz, weil wir am Anfang nicht wussten, wie wir die Integration erfolgreich abschließen konnten“, so Sven. Sie nutzten dazu eine eigens ausgedachte Marke, „nur um zu kontrollieren, ob wir in der Lage sind, einen Shop zum Laufen zu bringen“. Nach drei Monaten hatte das dann bereits geklappt. Der Shop hatte zu diesem Zeitpunkt noch wenige Funktionalitäten, „aber er konnte den Stakeholdern verdeutlichen, wo wir gerade stehen“. Sechs Monate später folgte dann die erste wirklich existierende Marke.
Vertikalisierung nach Kundenbedürfnissen: Alle Entscheidungen wurden auf Grundlage von Kundenrecherchen getroffen, so Sven, „auf Basis eines sehr guten Kundenverständnisses“. Nicht die Erwartungen der Stakeholder standen dabei im Vordergrund. Vertikalisierung wurde in dem Sinne durchgeführt, dass virtuelle Teams gebildet wurden, die bei Bedarf alle benötigten Fähigkeiten zusammengeführt haben. Sie alle sind verantwortlich für bestimmte Schritte in der Customer Journey.
Zum Beispiel gibt es ein Team, welches ausschließlich für den Check-out-Prozess zuständig ist – und auch nur dafür. Die wichtigste Aufgabe sei hier gewesen, diese Teams zu schützen, etwa vor externen Agenden oder von Meinungen übergeordneter Hierarchien. Selbst er, als Leiter der Teams, hat nicht die Erlaubnis, Feature-Wünsche in diese Teams hereinzutragen.
Das 3-Horizons-Model
Stragetische Grundlage für den Prozess ist das „3 Horizons Model“ (siehe auch: https://www.boardofinnovation.com/blog/what-is-the-3-horizons-model-how-can-you-use-it/), welches für wachsende Unternehmen drei Horizonte des Wachstums definiert:
- Horizont 1: Man kennt seine Kunden und weiß, wie man mit ihnen Geld verdienen kann. Der Fokus liegt hier auf der sehr effizienten Nutzung dieses Wissens. Horizont 1 ist auch der einzige Bereich, in dem man wirklich Geld verdient.
- Horizont 2: Wenn man mit der Modifizierung der Kundenstruktur, des Business Models beginnt und weitere Services implementiert und Personal einstellt, befindet man sich im Horizont 2. „Hier bewegt man sich noch sehr nahe an dem existierenden Wirtschaften“, so Sven. „Aber dennoch ist es experimentell, weil man in diesem Bereich noch kein Geld verdient.“
- Horizont 3: Hier gehe es um die Sicherstellung langfristiger Einnahmequellen, so Sven. Der Blick richtet sich hier auf die kommenden 3 bis 5 Jahre.
Für Klingel hat Sven vor allem die Zeitperioden beschleunigt und verkürzt. Das Unternehmen fokussiert sich aktuell auf Horizont 2. Aber dennoch arbeiten die Teams auch sehr stark innerhalb Horizont 1.
Das sei aber nicht genug, so Sven. „Wir wissen, dass sich Dinge verändern und wir müssen sicherstellen, dass wir unser Business Model auch ändern.“ Hier bewege man sich im Bereich der Unwissenheit, „wo es unterschiedliche Ansätze gibt, die umgesetzt werden können“. Der Vortrag auf dem Digitale Leute Summit 2021 fokussiert sich nun auf Horizont 2.
Was genau ist das unbekannte Ungeheuer?
Das Hauptthema ist Komplexität, sagt Daniel. „Dinge ändern sich sehr, sehr schnell.“ In diesem Sinne beschreibe der Komplexitätsfall, dass Dinge unvorhersehbar sind, „weil der Zusammenhang zwischen Ursache und der Effekt unklar ist“. Das lasse sich an vielen Dingen aufzeigen – „und es ist auch der Hauptfaktor von Transformation“.
Daniel beschreibt Transformation nicht als einen Prozess, bei dem man genau jeden Schritt und das Ziel kenne. „Es gibt kein Endstadium.“ In diesem Sinne ist Transformation eben kein Ziel, sondern eine Reise.
In Konsequenz ist ein statisches Set an praktischen Methoden – wie etwa SCRUM – nicht genug, um komplexen Situationen zu begegnen. Oder anders ausgedrückt: Es mache keinen Sinn, mit einem Tool alle Probleme lösen zu wollen. „Prinzipien stehen über der praktischen Umsetzung“, leitet Daniel daraus eine Leitlinie eines Transformationsprozesses ab, „weil Prinzipien uns helfen, das Problem zu verstehen“.
In Horizont 2 findet die Suche nach den Problemen und Lösungen statt, insbesondere für Produkte, zum Beispiel mit Ideen von Lean Business oder Design Thinking, wie Daniel beschreibt. Solche praktische Methoden kommen auch genau dorther und haben deshalb nach Daniels Ansicht den Nachteil, dass sie sich nicht mit den Zwängen in großen Organisationen auseinandersetzen. „Um das also bei Klingel verwenden zu können, mussten wir uns das genauer anschauen.“
Im Idealfall würden sich externe Teams alleine der großen Herausforderung widmen, neue Produkte zu entwickeln. Dies sei aber bei Klingel nicht die Realität, „weil eben auch noch Dinge im Horizont 1 passieren“. Sprich: Die Teams sind nicht losgelöst von dem generellen Wirtschaften des Unternehmens, sondern sind in verschiedenen Bereichen parallel tätig. Es sei sehr anstrengend für diese Teams, beide Dinge zur gleichen Zeit zu machen.
„Für uns ist die Frage, warum die Umsetzung für die Teams so schwierig ist“, so Daniel. Die Antwort:
- Viele Verantwortlichkeiten zur gleichen Zeit: Diese Herausforderung sei offensichtlich, so Daniel.
- Mehr Einsatz für Horizont 1: Daniel stellt fest, wenn Teams sehr frei Prioritäten zwischen Horizont 1 und Horizont 2 setzen konnten, „dass sie sehr viel mehr Prioritäten auf Horizont 1 legen“. Horizont 1 isst Horizont 2 zum Frühstück, so seine Zusammenfassung.
Horizont 1 und Horizont 2 sind sehr unterschiedliche Disziplinen und auch das Mindset ist hier anderes: Im Horizont 1 versucht man Risiken zu minimieren, im Horizont 2 hingegen sucht man sie förmlich. „Sich in Unbekanntes zu bewegen, ist gleichzeitig riskant“, so Daniel.
Aus dieser Erkenntnis hat sich ein erstes Leitungsprinzip ergeben: Nutze das richtige Tool für die jeweilige Aufgabe. Daniel fasst das in einer kleinen Tabelle zusammen – und hier stehen eher ideenorientierte Methoden wie Kanban und Design Thinking in Horizont 2 den eher implementierungsorientierten Methoden wie etwa Scrum gegenüber. In Horizont 2 sollen Iterationen innerhalb von Tagen möglich sein, dafür ist Scrum zu langsam, so Daniel. Auch die Anforderung an die Tools ist eine andere: Während es in Horizont 2 vor allem um die Erstellung und Validierung von Prototypen geht, soll in Horizont 1 eine erweiterbare und auslieferbare Softwarelösung erstellt werden. Es geht eben in Horizont 2 darum, etwas zu lernen. In Horizont 1 will man vor allem Geld verdienen.
Wie man dennoch Horizont 1 und Horizont 2 verbinden kann
Es habe sich in der Praxis als sehr schwer herausgestellt, zum Beispiel Scrum auch für Horizont 2 soweit zu adaptieren, dass es dort passt. Umgekehrt ist es aber genauso schwer. Aus dieser Erkenntnis heraus, ist es bei Klingel die Strategie, dies so einfach wie möglich zu machen.
Im Bild steht Horizont 2 an der Spitze eines Berges, es ist ein langer, beschwerlicher Weg. Deshalb gibt es bei Klingel zwei Basecamps auf der Strecke:
- Basecamp 1 – Kundenbestimmung ist der Hauptfaktor: Dies gebe es zwar auch bei Scrum (in Horizont 1), aber für Horizont 2 sei es bestimmend, so Daniel. „Wir müssen es für unsere Teams deshalb einfacher machen, mit unseren Kunden zu sprechen.“ Dort sollen die Konzepte vorgestellt werden, direktes Feedback wird eingeholt. Beispielsweise wird hierfür ein Test Lab geschaffen, „das die Teams einfach nutzen können, ohne selbst dafür Personal organisieren zu müssen“.
- Basecamp 2 – Prototyping mit Live-Daten: „Was passiert, wenn die neue Idee sich schlecht entwickelt“, fragt Daniel. Um das herauszufinden, werden auch quantitative Kontrollen benötigt. „Es muss für die Teams auch einfach umzusetzen sein, einen Prototyp zu erstellen und diesen mit Kunden zu testen“, so Daniel.
Begleitet wird das bei Klingel durch die Reduzierung von Verantwortlichkeiten für das Team und den Versuch, aus Horizont 1 temporäre Teams für Horizont 2 zu generieren, um das Umschalten zwischen den beiden Horizonten zu erleichtern. „Wir wollen Teams haben, die beides können“, so Daniel. Um das zu gewährleisten, hat Klingel ein erstes Projektteam für Horizont 2 gebildet, welches die Prozesse und Strukturen für alle folgenden Teams aufgebaut hat.
Die Bedeutung von Horizont 3
Die echte Herausforderung bei dem Horizonten-Modell sei es, Personal zwischen den verschiedenen Horizonten zu transferieren, beschreibt Sven. „Wir wollen keine Trennung zwischen einem „Zukunftsteam“ und einem „existierenden Team“.
Die darüber liegende Zukunftsvision des Unternehmens spielt so eine wesentliche Rolle, sie sei die Verbindung zwischen den verschiedenen Horizonten. „Sie soll sicherstellen, dass das, was wir in Horizont 2 und 3 machen, gut zur Strategie und Kraft des Unternehmens passe.“
Es sei wichtig, sich auch mit Horizont 3 zu beschäftigen: Bei Klingel ermutige man derzeit bestehende Teams, auch einen Blick auf Horizont 3 zu werfen oder dafür zusätzliche Kapazitäten aufzubauen, „um die Wetten der Zukunft zu gewinnen“, so Sven.
Product Jobs
Über Sven Christian Andrä: Sven Christian Andrä ist Managing Director & CDO bei der Klingel Gruppe. Er ist für alle digitalen Bereiche verantwortlich, zum Beispiel traditionelle IT, E-Commerce, Produktmanagement und Softwareentwicklung. Zuvor war er fast drei Jahrzehnte unternehmerisch in diesem Bereich in Deutschland und den USA tätig, in ganz unterschiedlichen Wirtschaftszweigen.
Über Daniel Neuberger: Für Daniel Neuberger ist Produktmanagement vor allem die Kunst, Probleme zu lösen. Er hat Produktmanagement in einigen Firmen praktiziert mit Positionen als Head Of Product Management, Product Director and Chief Product Officer. Er fokussiert sich in seiner Arbeit vor allem auf Innovation.
Auf dem Digitale Leute Summit 2021 beschrieben Sven Christian Andrä und Daniel Neuberger, wie sie mit Hilfe des 3-Horizonte-Modells versuchen, die Transformation bei der Klingel Gruppe voranzubringen – und welche Herausforderungen dabei entstehen.
Autor: Jörg Stroisch